DDR und BRD – zwei Autonationen, zwei gescheiterte Mobilitäten

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Früher, in der DDR war alles schlimm und schlechter als heute, so ist oft zu hören und zu lesen. Für manche waren das grauenvollste bekanntlich die Autos. Schon die sowjetischen Luxusmodelle wie Lada, Wolga und Moskwitsch waren schnöde im Vergleich zu ihren westdeutschen Konkurrenten. Unangefochten an der Spitze standen die DDR Hausmarken, Wartburg, Trabant und Barkas mit ihren blau qualmenden, tuckernden Zweitaktmotoren. Der Trabant 601 schafft es gelegentlich sogar zur Ikone für sozialistische Misswirtschaft.

 

Dabei erfreute sich der „Trabi“ immerhin so großer Beliebtheit, dass selbst die jahrelangen Wartezeiten in Kauf genommen wurden. Und wie Ehemalige berichten, fuhren in der Karbon-Zellulose Karosserie vier Personen problemlos (manche würden sogar sagen: bequem) von der Ostsee bis nach Zwickau. Viel weiter musste ohnehin niemand fahren. Nur die abenteuerlustigen wagten sich bis Rumänien, und die meisten kamen wohl auch wieder zurück.

Heute werden am Urlaubsort die Abenteuer kommerziell angeboten: Safari, Klettern, Bunge-Springen. Der DDR Urlauber stillte die Sehnsucht nach Gefahr schon kostenlos auf der Anreise, besonders wenn er um den Makel wußte, dass der beim Trabant vorne eingebaute Benzintank beim Frontalaufprall schnell explodiert. Vielleicht war deshalb der Urlaub dann eher entspannt statt voller Techno-Strand-Partys.

 

Ein Trabant auf der Straße wirkt heute im Vergleich zu den Stadtpanzern und XXL-Autos verletzlich und winzig. Von einem der Geländewagen würde er wohl einfach plattgedrückt, auf der Autobahn könnte er nicht einmal mit den Lastern mithalten. Als hingegen noch jedes zweite Auto ein Trabbi war, gab es diese Probleme nicht. 120 km/h waren ja ausreichend. Ein bisschen Karbon-Pappe reichte in diesem früheren Stadium des Straßenverkehrs-Wettrüstens aus, die Bedingungen beim Zusammenstoß waren technisch geradezu kommunistisch. Wer heute im Kleinwagen einen Unfall mit einem der –tatsächlich legal zugelassenen– amerikanischen Zivil- oder Militärfahrzeuge hat, hat schlechte Karten. Von Fußgängern und Radfahrern ganz zu schweigen.

 

Das alles soll keine Entschuldigung sein. Empört sind viele im Nachhinein über ihr zehnjähriges Warten auf das ersehnte Auto, oder gar über den Mangel eines solchen. So ist eine der härtesten Strafen, die manchem Politiker für Nazis und Fußballhooligans einfällt bekanntlich der Entzug des Führerscheins. Als würde nichts mehr deklassieren als der Verlust des Autos. Deklassiert ist in jedem Fall die Taktung des Bahn-Fahrplans. Statt mehrmals am Tag und direkt von Stadt zu Stadt zu fahren, muss der Ossi (oder Wossi, Kreole aus Wessi und Ossi) heute selbst auf kurzen Strecken mehrmals Umsteigen. Statt wie die DDR Reichsbahn, sauber, sicher und pünktlich ist die im Osten dominante Regionalbahn heute oft schmutzig, verspätet und nur manchmal sicher, nämlich da, wo routinemäßig der Bundesgrenzschutz mitfährt.1

 

Das Zehnjährige Warten auf ein Auto war daher keine Strafe wie heute, denn die DDR war eher eine Zug-Bus-Tram-Fahrrad-Fuß Gesellschaft als eine Autonation wie die BRD. Wenn sich viele der acht Millionen ostdeutschen Männer 1990 über den neuen gebrauchten West-Wagen mehr freuten als über demokratische Grundrechte, dann wird das nicht an einem Mangel an Mobilität gelegen haben. Vielmehr war ein Golf oder Benz im Meer von kleinen und langsamen Autos ein Statussymbol. Freilich nicht lange, ein paar Jahre und auf den Golf III folgt die Variante IV und V.

 

Dank der Politik von der freien Fahrt für freie Bürger, dürfen seit nun 23 Jahren auch die Ostdeutschen mit 260 km/h und einem Bier im Blut, bei vielleicht nur 18 Lenzen, die Bleifuß-Freiheit genießen. Keine Überraschung, dass die Todeszahlen 1990 explodiert sind. Verglichen mit dem dazu paradiesisch ruhigen Verkehr in der DDR, sind bis zum Jahr 2002 14.410 Menschen in Ostdeutschland im Verkehr gestorben, die andernfalls noch leben würden, 700.000 wurden leicht oder schwer verletzt.2 Wenn der Westen nicht nur den grünen Pfeil sondern das gesamte Mobilitäts-Modell übernommen hätte, würden diese und viele andere Menschen (auch im Westen) noch leben; 80% des Transports würden über die Schiene Rollen statt über Autobahnen, und viele Autobahnen wären dem Land erspart geblieben.

Fairerweise muss erwähnt werden, dass sich 1990 89% der neuen Bundesbürger in einer Umfrage für ein Tempolimit aussprachen, bekommen haben sie es gleichwohl nicht. Selbst im Westen wünschte sich eine Mehrheit von 56% die Geschwindigkeitsbeschränkung auf allen Straßen.3

 

Bei all den Fernsehsendungen über Menschen mit „Benzin im Blut“ und Dutzenden von Autozeitschriften alleine im Zahnarzt-Wartezimmer ist eines offensichtlich: das Auto ist in Deutschland zuerst ein Fetisch und erst dann ein zweckdienliches Werkzeug. Wie jeder Fetisch hat auch dieser seinen Preis, er kontrolliert uns mehr als wir ihn. Wie viel Zeit wird geopfert für Parkplatz suchen, Auto finden, tanken, Werkstatt aufsuchen und so weiter? Wie viel Lebenszeit verbringen Fußgänger wartend an Ampeln? Wie viele Menschen werden vom Lärm krank in ihren Wohnungen und Häusern? Wie viele Innenstädte sind mit Lärm und Auto-Aggression verschmutzt?

 

Wer das gute, oder vielmehr das schlechte Leben unbedingt in Zahlen ausdrücken will, findet sie auch hier. Im Jahr 2000 wurde das Auto in Deutschland laut Infratest mit 139 Milliarden Euro bezuschusst, weil viele Kosten nicht mit den Steuern abgedeckt werden.4 Prof. Knoflacher setzt die versteckten Kosten noch höher an. Für jeden gezahlten werde ein weiterer Euro subventioniert, macht in Deutschland rund 400 Milliarden Euro jährlich.5

Doch selbst die künstlich niedrigen Unterhaltungskosten sind immer noch so hoch, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer über ein Drittel seiner Arbeitszeit für sein/ihr Auto arbeitet. Wenn diese Lebenszeit auf jeden Autokilometer aufgeschlagen wird, bleibt eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 17 km/h. Städtische Autofahrer bewegen sich nach dieser Beispielrechnung sogar nur mit 6 km/h vorwärts.6

 

Wäre die DDR nicht der muffige Abklatsch der Sowjetunion gewesen, dann hätte ihr der große Wurf gelingen können, auf den MIV, den motorisierten Individualverkehr, einfach zu verzichten. Mit dem gesparten Geld hätte wohl das beste Fahrrad-Wege und ÖPNV Netz der Welt betrieben werden können. Leider blieb die industrielle Konsum-Phantasie am Westen kleben.7 Wenn die DDR dennoch keine so brutale MIV Gesellschaft war, dann nur weil sie nicht konnte wie sie wollte. Immerhin aber war das Auto zu albern, zu stinkend und zu wenig von der Werbung gepriesen, als dass es ein solcher Fetisch hätte sein können wie im Westen.

Aber wer hätte das anmahnen mögen? Die Phantasie vom privaten KfZ-Glück war dank Westfernsehen kräftig angeheizt. Für die Phantasie, dass man natürlich nicht alleine wäre, sondern noch 1000 andere ein Auto haben und vor der eigenen Tür vorbeirasen und die Stadt zuparken, dass man und frau mit 100 PS wesentlich schneller verunglückt als mit 25 PS und dass Autofahren in der Autogesellschaft weniger ein Privileg als ein Zwang ist, das waren (zu) weit entfernte Gedanken. Freilich war für diese Seiten des gar nicht so goldenen Westens im ARD und ZDF auch kaum ein Sendeplatz. Wie hätte man es ahnen sollen?

 

Ungewollt war der Trabant ein großartiger Gegenentwurf. Ein Auto, das kein Fetisch war. So langsam, dass der grüne Pfeil gefahrlos eingeführt werden konnte. Kommt das west-europäische Auto meist männlich dumpf aggressiv daher, zeichneten Trabant und Wartburg eher feminine Züge und runde Scheinwerfer, die eben sprichwörtlich wie ein Auto kucken. Eine Maschine als freundliche Helferin. Die meisten gegenwärtigen deutschen Autos vermitteln im Design was Werbung und Zeitschriften erwarten lassen, aggressiver Egoismus für Fahrer und Fahrerin, Furcht und Schrecken für alle anderen.

 

Wie der Zweitakter-Gestank zur DDR gehörte, so gehört der rund um die Uhr fliegende Rettungshubschrauber zum vereinten Deutschland. Wo einst kopfsteingepflasterte Alleen mit zwei Spuren völlig ausreichten, müssen es heute schon vier Spuren sein. Und der ADAC möchte Alleen gerne abgeholzt sehen – es gelingt ihm leider auch oft – denn Schuld am hohen Blutzoll ist nicht dieser Autowahn, nein, die Pappeln, Eichen, Linden und Kirsch- und Apfelbäume sind angeblich schuld.

 

Was bleibt zu tun und zu hoffen? Um es mit Klaus Gietinger zu sagen, „Es wird endlich Zeit, das Auto zu verteufeln! (…) Ein Exorzismus ist nötig.“8 Angesichts der vom Auto getöteten, verkrüppelten, verängstigten, verletzten Menschen, muss es auf eine Stufe mit der Zigarette gestellt werden. Totales Werbeverbot, autofreie Zonen allerorten, Aussteigerprogramme, Testosteron-Pflaster und Pillen für KfZ-freies Selbstwertgefühl. Und auf jedem Auto ein großes weißes Warnschild: Autofahren kann tödlich sein. Schon das Abgas eines Kilometers schädigt sie, Ihre Kinder und alle anderen Menschen Ihrer Umgebung.

 

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Quellen 

1   So beispielsweise auf der Strecke Berlin-Cottbus und Leipzig-Cottbus sowie auf weiteren Strecken im ländlichen Raum. Üblicherweise sind es zwei oder vier BGS Beamte, oft auch private Sicherheitsdienste. Nach meiner eigenen Erfahrung ist dies nicht übertrieben sondern angemessen.Gleichwohl konnten zwei Personen der DB Servicehotline auf meine Anfrage, ob die Züge, die für eine Neonazi-Demonstration voraussichtlich von Neonazis benutzt würden, überhaupt von Polizei geschützt werden, oder ob man an diesem Tag besser nicht mit der Bahn fährt, keine Auskunft geben. Sie konnten der Argumentation, dass dies für nicht-Neonazis recht unbehaglich wäre, gar nicht folgen und waren mit der Frage schlicht überfordert.

2   Alle Zahlen im Artikel sind zittiert nach Gietinger, Klaus, Totalschaden: das Autohasserbuch, Frankfurt am Main 2010.

3   BAST Untersuchung 1990 In: Praxenthaler 1999, S. 58. zittiert nach Gietinger, Klaus, Totalschaden: das Autohasserbuch, Frankfurt am Main 2010.

4   Infratest, External Costs of Transport, 2004 S. 71.

5   Gietinger, 2010, S. 110f..

6   Modellrechnung von 1995 nach: Schmidt, Markus, Eingebaute Vorfahrt, Frankfurt am Main 2002, S. 191ff.. Angenommen wurden 286 Stunden im Auto jährlich bei einem durchschnittlichen Nettolohn von 8,50 und 14100 km jährliche Strecke bei 1,4 Personen im Auto. Demnach ergibt sich eine jährliche Arbeitszeit von 1160 Stunden zum Auto-Unterhalt.

7   Obwohl Walter Ulbrichts Motto gegenüber dem Westen, „Überholen ohne Einzuholen“ eine Metapher des Straßenverkehrs ist, wurde sie just hier nicht weiter beachtet.

8   Gietinger, S. 10